Als ich an dem verregneten Septembertag am Bahnhof von Göttingen ankomme – es ist mein erster Tag in der Stadt als Hausautorin und ich bin auf der Suche nach meiner neuen Bleibe und gedanklich beim Versuch meine Aufgaben als solche für mich genauer zu fassen –, springt mir als erstes ein Theaterplakat ins Auge: „Träum weiter“ heißt es dort und ist rosa. Rosa mag ich nicht, und doch bleibe ich an den Worten hängen und starre sie lange an. Ich weiß nicht wieso. Auf dem Weg in die Südstadt, auf der Suche nach dem Zimmer, das ich bewohnen soll, denke ich weiterhin an die Worte. Träum weiter, denke ich mir immer wieder und ärgere mich, dass mich diese recht simplen Worte so wurmen, wie ein Refrain von einem lästigen Song.
Durch die neue Wohnung, den neuen Ort abgelenkt, vergesse ich die Worte dann endlich und wende mich recht banalen Dingen zu, bis ich irgendwann abends wieder nach draußen gehe und den ersten Spaziergang in der Göttinger Innenstadt aufnehme. Ich muss die Stadt erkunden. Ich muss sie anders kennenlernen, als bisher, ich muss, ich muss... Denke ich mir. Bis ich irgendwann von so viel theoretischem Müssen recht ermüdet bin und mich doch in ein Cafe setze, also einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nachgehe. Und da tauchen die Worte wieder auf. Träume. Ich hatte viele und würde behaupten, ich habe immer noch viele, wie jeder Mensch. Bis zu einem gewissen Grad brauchen wir sie, realistische, illusorische, idealistische, blaue, rosafarbene, die aus Schaum, die aus Blei, die aus Gold, die aus Watte. Dies ist keine sonderlich originelle Erkenntnis, ich weiß, und doch vergegenwärtige ich mir die Erkenntnis im Café sitzend erneut.
Ich erinnere mich an meine Kindheitsträume. Ich hatte keine Prinzessinnenträume, fand auch Pferde nicht allzu interessant, dass ich eine Tierärztin, Schauspielerin oder Kosmonautin werden wollte – auch daran erinnere ich mich nicht. Es gab lediglich eine Faszination für Stewardessen, die sich recht schnell verflüchtigte, nachdem mir einer der Erwachsenen genauestens schilderte, was Stewardessen alles machen müssen.
Als ich noch sehr klein war, wohnte in unserer Nachbarschaft eine Frau. Sie hatte einen rasierten Kopf, ein wunderschönes Gesicht, immer eine Filterlose im Mund, schmale, blasse Finger, die voller Ringe waren, ein alten Truck mit irgendwelchen Aufklebern drauf und trug immer ein weißes T-Shirt und Bluejeans. Sie lebte allein. Man sagte, sie habe einen Dachschaden und erzähle wirre Geschichten. Außerdem schreibe sie verbotene Gedichte. Und das alles in einem sowjetischen Land, wo man für einen Kurzhaarschnitt der Spionage bezichtigt werden konnte.
Ich wollte so sein, wie sie. Als ich das irgendwann zu Hause äußerte, rieten mir meine Eltern doch zur Stewardess, aber da war es schon zu spät. Mein Traum war bereits klar und deutlich und schrie nach Verwirklichung. Über die Vollmacht für meinen eigenen Haarschnitt verfügte ich damals noch nicht, Gedichte schreiben – vor allem verbotene – wollte mir nicht so wirklich gelingen, vom Rauchen und Autofahren ganz abgesehen. Also fing ich an, mir Geschichten auszudenken. Ich erzählte sie den anderen Kindern, in der Nachbarschaft, auf dem Schulhof, auf Kindergeburtstagen. Es waren schlichte Lügen. Manchmal waren es recht absurde Abenteuer, die ich erfand, und manchmal Dinge, die ich angeblich besaß, manchmal einfach nur alberne Anekdoten. Ich steigerte mich so in diese „Erfindungen“ hinein, dass ich irgendwann selbst anfing daran zu glauben. Manchmal lag ich nächtelang im Bett und erfand und erfand. Recht bald verbreitete sich mein Ruf als Spinnerin. Die Kinder distanzierten sich von mir und wollten mich bei ihren Spielen nicht mehr dabei haben. Zuerst fand ich das alles gar nicht so schlimm, ich hatte ja meine Geschichten, und schließlich gab es für mich ein Vorbild für diese Geschichten, und dieses Vorbild hatte auch nicht wirklich viele wohlwollende Menschen um sich. Ich würde auch so auskommen. Nach und nach langweilte ich mich dann doch allein gelassen mit meinen Hirngespinsten und versuchte wieder Anschluss zu finden, was mir nicht so schnell gelingen wollte, da die anderen Kinder mir vorwarfen eine Lügnerin zu sein. Ich zog mich zunehmend in meine Traumwelt zurück.
Zum Glück half dann die Zeit nach. Das System, das Land, die Zeichen und Symbole der Freiheitskämpfer, der Freaks, der Andersdenkenden änderten sich, die Sowjetunion fiel auseinander und nun waren ich, die anderen Kinder und auch die Erwachsenen viel mehr mit der Realität beschäftigt, da sich das Träumen kaum einer leisten konnte. Man musste irgendwie weiter kommen und schlicht und ergreifend überleben. So wurde ich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ich wurde wieder „normal“ und fand auch recht schnell neue Freunde. Wir rauften uns alle zusammen. Es war in der Zeit nicht anders möglich, man musste zusammen halten.
Jahre später, schon als Studentin und in der sich weiterhin formierenden Gesellschaft lebend, die irgendwo zwischen Vetternwirtschaft, Demokratieversuchen, Bürgerkrieg und den verschiedenen Möglichkeiten an eine Bluejeans zu kommen steckte, sah ich die skurrile Dame wieder. Sie stand an einer Bushaltestelle, an der ich gerade vor dem strömenden Regen Zuflucht gefunden hatte. Sie sah anders aus und doch erkannte ich sie sofort. Gealtert und ermüdet wirkte sie. Auch ihre Augen hatten nicht mehr den spitzbübischen Glanz. Auf ihrem kahlen Kopf erkannte man einen grauen Haaransatz. Ihre Kleider wirkten etwas verwahrlost. Auch wenn ihr Gesicht nach wie vor unfassbar fein und schön war, hatte sie etwas eingebüßt, das mich an ihr als Kind so fasziniert hatte. Das, was mich dazu veranlasst hatte, so werden zu wollen wie sie. Vielleicht war es meine Kindheit, die mich dazu veranlasst hatte, und gar nicht sie, aber falls es etwas gegeben hatte, so war es nun verschwunden. Ich wurde auf einmal sehr traurig, wich ihrem Blick aus und starrte vor mich hin. Der Regen verstärkte meine trostlose Stimmung und wäre sie mir nicht dazwischen gekommen, hätte ich angefangen zu weinen. Plötzlich sah sie mich an und sagte: „ Es hat keine Verhaftungen gegeben. Es hat keine Arbeitslager gegeben. Es hat überhaupt nichts gegeben. Es war alles sehr schön früher. Mein Mann hatte ein gutes Leben gehabt. Er war nicht in einem Arbeitslager und auch seine Gedichte sind gedruckt worden. Ich hab sein Buch nun zu Hause. Das alles war gelogen. Ich hab nun das Buch. Er ist sehr glücklich gewesen. Ich habe das nur nicht gewusst.“ Ich sah sie verwundert an und lächelte verlegen. Sie fuhr fort und wiederholte immer wieder, wie gut das System früher gewesen sei, wie gut die Staatsoberhäupter für das Volk gesorgt hätten, wie sorglos das frühere Leben gewesen sei. Das jetzige sei ja furchtbar, diese Freiheit – niemand könne damit umgehen. Was solle man mit ihr nun anstellen? Und das Buch, das Buch gäbe es, wiederholte sie immer wieder. Ich nickte immerzu und versuchte, eine gewisse Anteilnahme zu zeigen, obwohl es mir unmöglich war zu verstehen, wovon sie sprach. Irgendwann kam der Bus, sie verstummte abrupt, stieg ohne ein Abschiedswort ein, zog eine recht kaputte Ledertasche wie eine große Last hinter sich her und ließ mich recht sprachlos zurück.
Einige Zeit später – ich war dabei meinen Umzug nach Deutschland zu planen – ging ich in einen Buchladen, um ein Geschenk für einen Freund auszusuchen. Es war ein kleiner, schöner Buchladen, mit viel Liebe und Sorgfalt geführt, und ich blieb länger darin, als ich vorhatte. Ich durchsuchte die Regale, blätterte die Raritäten und Neuerscheinungen durch. Auf einmal verharrte ich mit einem dünnen Büchlein in der Hand, das auf der Rückseite ein Foto zeigte. Ein junger, gutaussehender Mann, der in die Kamera lachte und eine junge, wunderschöne Frau mit kurzen Locken, die ihren Kopf auf seine Schulter gelegt hatte, dabei sehr herzlich lachte und der ganzen Welt zu zeigen schien, wie glücklich sie war. Ich erkannte sie sofort. Das war SIE. Sie musste um die 20 sein und der junge Mann ebenso. Ich konnte kaum meinen Blick von dem Foto abwenden, immer wieder sah ich das Bild an und berauschte mich an der Freude, die von ihm auszugehen schien.
Irgendwann widmete ich mich dem Klappentext und erfuhr, dass es sich um einen Gedichtband handelte. Er schien von dem jungen Mann zu stammen, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Er hatte es in den frühen Sechzigern verfasst und war sofort auf die schwarze Liste gekommen. Die Gedichte waren recht politisch aber nicht das, was man damals unter „politisch“ verstehen wollte. Sie handelten nicht von der blühenden Volkswirtschaft, den Traktoren und den rotbäckigen Bäuerinnen, deren Mienen vor Glück nahezu platzten, da sie dem Land so ergeben dienten, indem sie jeden Tag auf dem Feld arbeiten durften. Kurz nach dem Erscheinen des Gedichtbandes wurde der Mann verhaftet und in ein Arbeitslager gesteckt. Seine Frau, deren vollen Namen ich zum ersten Mal auf dem Klappentext las, machte es zu ihrer Lebensaufgabe, für ihn und diese Gedichte zu kämpfen. Sie verlor ihren Job, sie verlor ihre Freunde, sie verlor ihre Familie. Sie kämpfte für seine Freilassung, für seine Gedichte, für ihre Träume von einem Leben, das sie niemals führen durfte.
Mit der Freiheit, die vor einigen Jahren so plötzlich in unser Land eingebrochen war, durfte auch sie nun ihren Traum verwirklichen und verlegte auf eigene Kosten das Buch in einer sehr kleinen Auflage. Dafür verkaufte sie ihr Hab und Gut, bestimmt auch ihren Truck (der Gedanke kam mir als ich an den Bus dachte, in den sie damals eingestiegen war). Kurz darauf erfuhr sie, dass der Mann, längst frei gelassen, sich woanders niedergelassen, eine andere Frau geheiratet und das Schreiben gänzlich aufgegeben hatte. (Das wiederum erzählte mir der ältere Buchverkäufer mit der Hornbrille, den ich darauf angesprochen hatte. Er erzählte mir, den Namen würde man in seiner Generation kennen, aber der Mann sei gar kein guter Dichter gewesen und der ganze Wirbel um die Verhaftung wäre nicht gerechtfertigt. Er hätte einfach provozieren wollen und wenn er ehrlich sei, dann glaube er, dass seine komische Frau ihm einen Floh ins Ohr gesetzt hätte.)
Ich kaufte mir das Buch und nahm es mit nach Deutschland. Ich nehme das Buch immer mal wieder in die Hand und schaue es mir an. Ich finde die Gedichte nicht unbedingt berauschend, aber ich liebe das Buch. Vor allem wegen des Fotos, das auf der Rückseite abgebildet ist. Das Foto erzählt für mich vom großen Glück, das zwei Menschen teilen können, wenn sie einen gemeinsamen Traum träumen, und es erzählt für mich vom großen Unglück, das zwei Menschen auseinander reißen, das Leben zerstören kann, wenn dieser Traum scheitert.
Ich habe die Frau nicht mehr wieder gesehen. Ich hoffe, dass sie noch lebt und ihren Traum ausgeträumt hat, dass sie aufwachen und neu anfangen konnte, auch wenn ich daran zweifele. Wenn jemand sein ganzes Leben einem Traum widmet, dann kann das Aufwachen nahezu unmöglich werden. Oft habe ich darüber nachgedacht, was wäre, wenn ich sie aufgesucht und ihr erzählt hätte, dass ich einen großen Traum von mir, den Traum vom Geschichtenerzählen, direkt oder indirekt ihr verdanke. Was gewesen wäre, wenn ich damals, statt irgendwelche Sachen zu erfinden, zu ihr gegangen wäre und ihr gesagt hätte, dass ich sie mochte, dass ich ihre Träume mochte, dass ich da war, wenn auch noch ein Kind. Vielleicht hätte ich ihr sogar beim Aufwachen geholfen. Ich weiß, diese Frage bringt nichts. Ich weiß, das ist eine Was-wäre-wenn-Frage, die mir niemals etwas bringen wird und doch stelle ich sie mir oft.
Also saß ich in dem Café an dem verregneten Tag und erinnerte mich an sie. An die Träume der ganzen Nationen, der einzelnen Menschen, an die Träume, die gescheitert waren oder verwirklicht und fragte mich, ob denn Träume einen nun wirklich glücklich machen. Gleichzeitig dachte ich daran, dass ich meine Träume liebte und brauchte und nicht anders konnte, als an sie zu glauben, denn ohne diese Träume würde ich viele Dinge nicht tun, die ich getan hatte oder immer noch tat, und ohne diese Träume würde ich vielleicht auch nicht in diesem Café sitzen, an diesem verregneten Tag. Vielleicht würde ich woanders sitzen, in meiner Heimat, würde nur das Vertraute um mich haben, würde nicht in dieser Stadt allein in einem Café sitzen und mir so viele Fragen stellen. Vielleicht wäre ich eine Stewardess, eine blonde, nette Dame, die immer zuvorkommend ist, immer behilflich und die immer lächelt. Vielleicht... Aber das war ich nicht und Was-wäre-wenn-Fragen bringen mir recht wenig, wie gesagt.
All die Erinnerungen hatten mich traurig gestimmt und doch war der Refrain „Träum weiter“ aus meinem Kopf verschwunden. Ich dachte nur daran, dass ich unbedingt das Buch mal wieder in die Hand nehmen und das Foto ansehen sollte. Und vielleicht sollte ich das nächste Mal, wenn ich in meine Heimat fahre, versuchen die Dame ausfindig zu machen, hoffend, dass sie wohlauf ist. Ihr von alldem berichten, was mir gerade durch den Kopf ging. Auch wenn es ihr vielleicht recht wenig bedeuten würde. Trotzdem sollte ich es versuchen. Denn gescheiterte Träume können einiges zerstören, aber auch eine traumlose Realität kann das. Also trank ich meinen Kaffee aus und wartete, bis der Regen aufhörte, um weiter zu gehen. Um zurück zu kehren, in die Realität und um irgendwann dann doch wieder weiter zu träumen...