Sonntag, 12. Dezember 2010

BETTGESCHICHTEN 2


Hallo Blog. Wie schlägst du dich? Hoffe doch – Bestens. Das Bett, an das ich heute denken musste – ist an einem zauberhaften Ort – in einem zauberhaften Land, mit einer grandiosen Aussicht. Vielleicht das beste Bett, das mir je begegnet ist. 

Ich musste heute an ihn denken, weil der Tag heute nicht zu meinem Besten gehört – ich  muss vielleicht hinzufügen, dass ich prinzipiell den Winter boykottiere. Dass ich keineswegs irgendein romantisches Gefühl verspüre - die schneebedeckten Landschaften, die Weihnachtsdekorationen und die klirrende Kälte wahrnehmend. Dass ich nicht Ski fahre und auch nicht  George Michael in einer Berghütte, am Kamin sitzend, höre – samt den Truthahngeruch, der, derweil aus der Küche dringt. Ich leide, weil ich friere. Mir tut die Welt leid, mir tun die Menschen leid, ich tue mir leid. Ich werde sentimental und wehleidig. Und finde das absolut blöd.

Und heute wachte ich auf und beschloss diesem Winter eine zweite Chance zu geben. Wie gesagt, ich erwähnte dies ja bereits, dass ich durchaus für Zweite Chancen bin.  Ich habe die Fenster weit aufgerissen, habe das Matschwetter fröhlich begrüßt und bin dann auch lange durch die Gegend gelaufen. Obwohl der Tag nicht unbedingt ein frostiger Wintertag ist – ist der für mich kalt genug. Auf dem Weg zum kleinen Cafe, wo ich des Öfteren meinen Kaffee hole, traf ich Gitta, eine sehr stolze, sehr interessante, sehr hilfsbreite Obdachlose, die, die halbe Stadt kennt, jeden namentlich grüßt und Geld nur dann annimmt, wenn sie einem auch irgendeinen kleinen Gefallen tun kann – z.B zum Kiosk laufen und einem irgendwelche Kleinigkeiten holen oder zum Zeitungsladen gehen und die Morgenausgabe der Lieblingszeitung besorgen.

Wir haben uns unterhalten, ich habe ihr von meiner Missgunst dem Winter gegenüber berichtet und dann hat Gitta eine Inspiration an poetisch-elegischer Ausdrucksweise vernommen und beschlossen mit aller Macht mich davon zu überzeugen, dass ich unbedingt meine Freundschaft mit dem Winter schließen soll. Also setze ich meinen vormittaglichen Weg samt meinen neuen, guten Ansätzen mit Gitta fort. Sie zeigte mir irgendwelche Hinterhöfe samt den besten Verstecken der Stadt, zeigte mir die Gärten, wo man am besten Lagerfeuer anzünden und Ofenkartoffeln zubereiten könnte, sie zeigte mir den Hinterausgang des liebsten und großzügigsten Restaurants der Gegend und das alles mit der dauernden Argumentation für den Winter: Lagerfeuer macht nur in der Kälte Spaß; eine sehr große Freude ist es  im Winter draußen zu übernachten, in einem Schlafsack am Besten und am nächsten Tag froh zu sein, dass man stark genug ist die Kälte überstanden zu haben; warmes Essen in einer verschneiten Nacht, in irgendeinem Treppenhaus – das alles sprach eindeutig für den Winter, ganz zu Schweigen davon, dass Menschen angeblich in der Vorweihnachtszeit sich auf ihre humanistische Ansätze und Werte besinnen und groszügiger schenken und verteilen.

Daraufhin musste ich daran denken, dass ich bei meinem ersten Göttinger Aufenthalt eine Dame kennenlernte, auf dem Weg ins Theater, die auf der Straße lebte, etwas wirr vor sich hin sprach, mehr oder weniger zum Straßen - und somit zum Stadtbild gehörte und einen ab und an um eine Zigarette oder um Feuer bat. Das war im Sommer. Sie hatte etwas sehr Interessantes an sich, oft ihr Hab und Gut in Tüten verpackt, dabei und ging oft den kleinen Straßenabschnitt auf und ab. Weit entfernte sie sich aber nicht von dem Ort. Und feste Zeiten hatte sie auch – um eine bestimmte Zeit kam sie dahin und um eine bestimmte Zeit ging sie fort. Wohin, das wusste ich nicht...

Das zweite Mal, als ich in Göttingen war, war die Dame verschwunden. Es war im Winter. Als ich nach ihr fragte, teilte man mir mit, dass sie am Heiligabend von einem betrunknen Bekannten sexuell belästigt und aufgrund der Verweigerung getötet worden war. Es versetzte mich in eine absolute Schockstarre. Ich hatte mich regelrecht an diese Dame gewöhnt und hatte es mir etliche Male vorgenommen, sie anzuquatschen und nach ihrem Namen zu fragen.  Ich wollte wissen, welche Geschichten hinter ihr standen. Ich konnte es mir nicht vorstellen, wer auf den Gedanken kommen sollte, dieser Frau etwas anzutun.

Ich glaube es ist oft diese Sehnsucht nach Wärme, was ich so ungerecht an Winter finde. Die Vorstellung davon, dass nun bei dem harten Wetter - Menschen zusammen rücken, sich zurückziehen, nachdenklich und liebesbedürftig werden, großzügig, empathisch. Dass sie sich gegenseitig Wärme schenken und am Kaminfeuer händchenhaltend – tief in die Augen schauen... (Okay, ich übertreibe jetzt auch ein wenig, das ist mir schon klar.) Dass sie sich gegenseitig Mützen stricken und sich gemeinsam Hörbücher mit schaurigen Geschichten anhören, dass sie sich die Füße wärmen und sich fester an einander drücken. Sicherlich tun das manche, sicherlich tun wir das alle ein wenig – das mit den Mützen und mit dem Kamin sei einfach so dahingestellt – sicherlich, aber manchmal tun wir es eben nicht. Keine Mützen, kein Kamin, kein George Michael, vielleicht nicht Mal ein warmer Schlafsack. Das macht dann Menschen grob und verbittert, sie werden dann düster, grimmig, unfreundlich, werden genauso grau, wie der Himmel.

Ich weiß, ich kann es dem Winter nicht in die Schuhe schieben, dass er den betrunkenen Mann dazu animiert hat, dass er die Frau tötete, ich kann auch dem Winter nicht vorwerfen, dass Menschen manchmal einfach nur schrecklich und ätzend sind und sich einen Dreck um ihre Mitmenschen scheren, ich weiß, dass der Winter nicht dran Schuld ist, dass ich ihn nicht mag, ich kann ihm auch nicht vorwerfen, dass manche Menschen  im Winter eben ihren Tee serviert bekommen und manche nicht  - aber ich täte das manchmal so gern...

Aber vielleicht hat Gitta Recht und ich sollte es Mal versuchen – in einem der Hinterhöfe Lagerfeuer anzuzünden und Freunde zusammen zu trommeln. Aber bevor ich mich dazu entschließe, träume ich einfach von dem glücklichsten Bett der Welt, vom Meer und von der Sonne...







Mittwoch, 8. Dezember 2010

BETTGESCHICHTEN

Hallo Blog. Ich bin Nino. Ich finde dich lustig. Wir entdecken gerade neue Seiten an uns – das mag ich, diese Phase meine ich. Das ist immer die interessanteste Phase beim Kennenlernen – man findet sich noch aufregend und jede ach so blöde Sache am Gegenüber fällt noch unter die Rubrik „spannend“. Vielleicht ist es eines Tages nicht mehr so, bestimmt ist es so, aber solange dies noch nicht der Fall ist – lass uns doch aneinander erfreuen und hoffentlich noch ein paar andere Menschen, die unser Kennenlernen verfolgen.

Ich werde dir immer wieder Geschichten erzählen, die du dann weitererzählst – in dieser merkwürdigen Welt. Ich werde sicherlich Dinge erzählen, die du nicht immer unter der Rubrik „spannend“ abbuchen können wirst, aber das ist der Deal, da müssen wir beide durch. Und am Ende, wer weiß, vielleicht mögen wir uns richtig.

Außerdem bist du immer in Göttingen, ich komme und gehe – so eine Art sicheren Hafen finde ich sehr gut. Momentan noch besser, als sonst, da ich in den letzten Monaten viel unterwegs war und manchmal kann man da schon die Orientierung verlieren. Und da du ja Flaschenpost heißt, weiß ich, dass du nicht untergehen kannst...

Und zur Überleitung, werde ich gleich heute mit einem Thema beginnen, auf das mich eine Freundin gebracht hat: Vor Monaten haben wir uns unterhalten und sie zeigte mir völlig empört ein Bild von einem Ort, an dem sie während einer Produktion an einem Theater wohnen musste. Sie regte sich auf und ich mich mit ihr, und irgendwann meinte sie, man müsse eigentlich eine Ausstellung machen zu all den Orten, an denen man in seinem Leben, und vor allem in seiner (Theater-)beruflichen Laufbahn, übernachten muss.

Monate später erinnere ich mich fast täglich an diese Worte – in all den verschiedenen Orten und in all den verschiedenen Betten schlafend, zu denen ich wegen meiner beruflichen Reiserei kam.

Es hat was, für eine Weile zumindest, und es gibt auch Orte, an die man sehr gern hinkommt, die aufregend sind, wunderschön, skurril oder lustig. Dann welche, die man weniger gern besucht. Es hat was: Köfferchen packen, zum Bahnhof oder Flughafen fahren, zum Hotel fahren oder gehen, neue Menschen treffen, kurz: die Stadt kennenlernen, dann wieder Koffer packen und wieder zum Flughafen und Bahnhof zurück.

Irgendwann gab es aber einen Morgen, an dem ich aufwachte und kurz nachdenken musste, wo genau ich war, in welcher Stadt. Das war dann weniger toll.

Um das zu vermeiden, habe ich angefangen mir für die Betten Geschichten auszudenken, für die Betten, in denen ich schlafe, damit ich jedem dieser Betten seine Würde und Einmaligkeit zurück geben und es damit aus der Verdammnis der Verwechselbarkeit heraus holen konnte. Ich glaube, die Betten haben sich gefreut und ich hoffe, du freust dich auch, Blog.

Solange wir uns hier weiter kennenlernen und anfreunden, werde ich einige solcher Bettgeschichten erzählen, um am Ende mein Göttinger Bett vorzustellen und damit die Geschichte, die wir zusammen erleben werden – im Laufe dieser Spielzeit. Aber bis dahin sind noch einige andere dran.

Heute stelle ich das traurigste Bett vor, das ich diesen Winter kennengelernt habe; ein Bett, das sehr trostlos und alt wirkte. Sehr apathisch und desinteressiert, das es nicht mehr nötig hatte, sich die Mühe zu machen, gemütlich zu sein. 

Ich mochte es anfangs natürlich gar nicht, schon allein deswegen, weil mein Rücken es nicht mochte. Aber dann, dann irgendwann entlockte ich ihm doch ein paar Geheimnisse; es beklagte sich über die Untreue der Menschen und darüber, dass es sich niemals angenommen gefühlt hatte, dass es für Liebespiele eingesetzt wurde, aber ihm selbst niemals eins vergönnt war, da es alt war und verbraucht und hässlich...

An der Wand, hinter dem Bett hatte jemand eine Postkarte mit dem Spruch hingehängt: ES IST SO SCHÖN HIER und dieser Satz machte das ganze noch trostloser. Die Ironie kann manchmal auch einem Bett die Würde nehmen, durchaus...

Ja, es war ein sehr einsames Bett.



Aber manchmal muss man einem Ort, sowie einem Bett, eine zweite Chance geben, damit es seine guten Seiten zeigen kann... Am Ende dieser Reise liebte ich dieses Bett und mein Rücken klagte auch nicht mehr. Ich liebte dieses Bett, weil ich an diesem Ort tolle Menschen kennenlernte, mir gute Gedanken in den Sinn kamen, weil ich dort lange und gute Gespräche führte und weil es für mich zu einem sicheren Hafen geworden war. Und wie gesagt, in aufregenden, unruhigen Zeiten, lernt man solche Häfen schnell zu schätzen...

Freitag, 26. November 2010

DIE LEINEN LOS UND DIE SEGEL GEHISST

Hoch schlagen die Wellen, stürmisch ist die See! Schietwetter?
Das kann einen Seemann nicht erschüttern und schon gar nicht die dt-flaschenpost! Schwungvoll schippert sie über den virtuellen Ozean, um dann schließlich auch über Ihren heimischen Bildschirm an Land gespült zu werden.

Ahoi und herzlich willkommen auf dt-flaschenpost, dem BLOG, auf dem unsere Hausautorin und Stadtschreiberin Nino Haratischwili regelmäßig Botschaften über die verschlungenen Kanäle des World Wide Web verschickt. Mit Forscherdrang im Blick und Abenteuerlust im Blut berichtet sie von Neuland innerhalb und außerhalb Göttinger Hoheitsgebiete, schreibt über theatrale und kulturelle Treibgüter, kartografiert die Gefilde städtischer Wirklichkeit zwischen Gänseliesel und Uni-Campus, und führt Logbuch über das Leben einer jungen Autorin in Deutschland.

Also, die Leinen los und die Segel gehisst!

Donnerstag, 25. November 2010

TRÄUM WEITER...

Als ich an dem verregneten Septembertag am Bahnhof von Göttingen ankomme – es ist mein erster Tag in der Stadt als Hausautorin und ich bin auf der Suche nach meiner neuen Bleibe und gedanklich beim Versuch meine Aufgaben als solche für mich genauer zu fassen –, springt mir als erstes ein Theaterplakat ins Auge: „Träum weiter“ heißt es dort und ist rosa. Rosa mag ich nicht, und doch bleibe ich an den Worten hängen und starre sie lange an. Ich weiß nicht wieso. Auf dem Weg in die Südstadt, auf der Suche nach dem Zimmer, das ich bewohnen soll, denke ich weiterhin an die Worte. Träum weiter, denke ich mir immer wieder und ärgere mich, dass mich diese recht simplen Worte so wurmen, wie ein Refrain von einem lästigen Song.
Durch die neue Wohnung, den neuen Ort abgelenkt, vergesse ich die Worte dann endlich und wende mich recht banalen Dingen zu, bis ich irgendwann abends wieder nach draußen gehe und den ersten Spaziergang in der Göttinger Innenstadt aufnehme. Ich muss die Stadt erkunden. Ich muss sie anders kennenlernen, als bisher, ich muss, ich muss... Denke ich mir. Bis ich irgendwann von so viel theoretischem Müssen recht ermüdet bin und mich doch in ein Cafe setze, also einer meiner Lieblingsbeschäftigungen nachgehe. Und da tauchen die Worte wieder auf. Träume. Ich hatte viele und würde behaupten, ich habe immer noch viele, wie jeder Mensch. Bis zu einem gewissen Grad brauchen wir sie, realistische, illusorische, idealistische, blaue, rosafarbene, die aus Schaum, die aus Blei, die aus Gold, die aus Watte. Dies ist keine sonderlich originelle Erkenntnis, ich weiß, und doch vergegenwärtige ich mir die Erkenntnis im Café sitzend erneut.
Ich erinnere mich an meine Kindheitsträume. Ich hatte keine Prinzessinnenträume, fand auch Pferde nicht allzu interessant, dass ich eine Tierärztin, Schauspielerin oder Kosmonautin werden wollte – auch daran erinnere ich mich nicht. Es gab lediglich eine Faszination für Stewardessen, die sich recht schnell verflüchtigte, nachdem mir einer der Erwachsenen genauestens schilderte, was Stewardessen alles machen müssen.
Als ich noch sehr klein war, wohnte in unserer Nachbarschaft eine Frau. Sie hatte einen rasierten Kopf, ein wunderschönes Gesicht, immer eine Filterlose im Mund, schmale, blasse Finger, die voller Ringe waren, ein alten Truck mit irgendwelchen Aufklebern drauf und trug immer ein weißes T-Shirt und Bluejeans. Sie lebte allein. Man sagte, sie habe einen Dachschaden und erzähle wirre Geschichten. Außerdem schreibe sie verbotene Gedichte. Und das alles in einem sowjetischen Land, wo man für einen Kurzhaarschnitt der Spionage bezichtigt werden konnte.
Ich wollte so sein, wie sie. Als ich das irgendwann zu Hause äußerte, rieten mir meine Eltern doch zur Stewardess, aber da war es schon zu spät. Mein Traum war bereits klar und deutlich und schrie nach Verwirklichung. Über die Vollmacht für meinen eigenen Haarschnitt verfügte ich damals noch nicht, Gedichte schreiben – vor allem verbotene – wollte mir nicht so wirklich gelingen, vom Rauchen und Autofahren ganz abgesehen. Also fing ich an, mir Geschichten auszudenken. Ich erzählte sie den anderen Kindern, in der Nachbarschaft, auf dem Schulhof, auf Kindergeburtstagen. Es waren schlichte Lügen. Manchmal waren es recht absurde Abenteuer, die ich erfand, und manchmal Dinge, die ich angeblich besaß, manchmal einfach nur alberne Anekdoten. Ich steigerte mich so in diese „Erfindungen“ hinein, dass ich irgendwann selbst anfing daran zu glauben. Manchmal lag ich nächtelang im Bett und erfand und erfand. Recht bald verbreitete sich mein Ruf als Spinnerin. Die Kinder distanzierten sich von mir und wollten mich bei ihren Spielen nicht mehr dabei haben. Zuerst fand ich das alles gar nicht so schlimm, ich hatte ja meine Geschichten, und schließlich gab es für mich ein Vorbild für diese Geschichten, und dieses Vorbild hatte auch nicht wirklich viele wohlwollende Menschen um sich. Ich würde auch so auskommen. Nach und nach langweilte ich mich dann doch allein gelassen mit meinen Hirngespinsten und versuchte wieder Anschluss zu finden, was mir nicht so schnell gelingen wollte, da die anderen Kinder mir vorwarfen eine Lügnerin zu sein. Ich zog mich zunehmend in meine Traumwelt zurück.
Zum Glück half dann die Zeit nach. Das System, das Land, die Zeichen und Symbole der Freiheitskämpfer, der Freaks, der Andersdenkenden änderten sich, die Sowjetunion fiel auseinander und nun waren ich, die anderen Kinder und auch die Erwachsenen viel mehr mit der Realität beschäftigt, da sich das Träumen kaum einer leisten konnte. Man musste irgendwie weiter kommen und schlicht und ergreifend überleben. So wurde ich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Ich wurde wieder „normal“ und fand auch recht schnell neue Freunde. Wir rauften uns alle zusammen. Es war in der Zeit nicht anders möglich, man musste zusammen halten.
Jahre später, schon als Studentin und in der sich weiterhin formierenden Gesellschaft lebend, die irgendwo zwischen Vetternwirtschaft, Demokratieversuchen, Bürgerkrieg und den verschiedenen Möglichkeiten an eine Bluejeans zu kommen steckte, sah ich die skurrile Dame wieder. Sie stand an einer Bushaltestelle, an der ich gerade vor dem strömenden Regen Zuflucht gefunden hatte. Sie sah anders aus und doch erkannte ich sie sofort. Gealtert und ermüdet wirkte sie. Auch ihre Augen hatten nicht mehr den spitzbübischen Glanz. Auf ihrem kahlen Kopf erkannte man einen grauen Haaransatz. Ihre Kleider wirkten etwas verwahrlost. Auch wenn ihr Gesicht nach wie vor unfassbar fein und schön war, hatte sie etwas eingebüßt, das mich an ihr als Kind so fasziniert hatte. Das, was mich dazu veranlasst hatte, so werden zu wollen wie sie. Vielleicht war es meine Kindheit, die mich dazu veranlasst hatte, und gar nicht sie, aber falls es etwas gegeben hatte, so war es nun verschwunden. Ich wurde auf einmal sehr traurig, wich ihrem Blick aus und starrte vor mich hin. Der Regen verstärkte meine trostlose Stimmung und wäre sie mir nicht dazwischen gekommen, hätte ich angefangen zu weinen. Plötzlich sah sie mich an und sagte: „ Es hat keine Verhaftungen gegeben. Es hat keine Arbeitslager gegeben. Es hat überhaupt nichts gegeben. Es war alles sehr schön früher. Mein Mann hatte ein gutes Leben gehabt. Er war nicht in einem Arbeitslager und auch seine Gedichte sind gedruckt worden. Ich hab sein Buch nun zu Hause. Das alles war gelogen. Ich hab nun das Buch. Er ist sehr glücklich gewesen. Ich habe das nur nicht gewusst.“ Ich sah sie verwundert an und lächelte verlegen. Sie fuhr fort und wiederholte immer wieder, wie gut das System früher gewesen sei, wie gut die Staatsoberhäupter für das Volk gesorgt hätten, wie sorglos das frühere Leben gewesen sei. Das jetzige sei ja furchtbar, diese Freiheit – niemand könne damit umgehen. Was solle man mit ihr nun anstellen? Und das Buch, das Buch gäbe es, wiederholte sie immer wieder. Ich nickte immerzu und versuchte, eine gewisse Anteilnahme zu zeigen, obwohl es mir unmöglich war zu verstehen, wovon sie sprach. Irgendwann kam der Bus, sie verstummte abrupt, stieg ohne ein Abschiedswort ein, zog eine recht kaputte Ledertasche wie eine große Last hinter sich her und ließ mich recht sprachlos zurück.
Einige Zeit später – ich war dabei meinen Umzug nach Deutschland zu planen – ging ich in einen Buchladen, um ein Geschenk für einen Freund auszusuchen. Es war ein kleiner, schöner Buchladen, mit viel Liebe und Sorgfalt geführt, und ich blieb länger darin, als ich vorhatte. Ich durchsuchte die Regale, blätterte die Raritäten und Neuerscheinungen durch. Auf einmal verharrte ich mit einem dünnen Büchlein in der Hand, das auf der Rückseite ein Foto zeigte. Ein junger, gutaussehender Mann, der in die Kamera lachte und eine junge, wunderschöne Frau mit kurzen Locken, die ihren Kopf auf seine Schulter gelegt hatte, dabei sehr herzlich lachte und der ganzen Welt zu zeigen schien, wie glücklich sie war. Ich erkannte sie sofort. Das war SIE. Sie musste um die 20 sein und der junge Mann ebenso. Ich konnte kaum meinen Blick von dem Foto abwenden, immer wieder sah ich das Bild an und berauschte mich an der Freude, die von ihm auszugehen schien.
Irgendwann widmete ich mich dem Klappentext und erfuhr, dass es sich um einen Gedichtband handelte. Er schien von dem jungen Mann zu stammen, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Er hatte es in den frühen Sechzigern verfasst und war sofort auf die schwarze Liste gekommen. Die Gedichte waren recht politisch aber nicht das, was man damals unter „politisch“ verstehen wollte. Sie handelten nicht von der blühenden Volkswirtschaft, den Traktoren und den rotbäckigen Bäuerinnen, deren Mienen vor Glück nahezu platzten, da sie dem Land so ergeben dienten, indem sie jeden Tag auf dem Feld arbeiten durften. Kurz nach dem Erscheinen des Gedichtbandes wurde der Mann verhaftet und in ein Arbeitslager gesteckt. Seine Frau, deren vollen Namen ich zum ersten Mal auf dem Klappentext las, machte es zu ihrer Lebensaufgabe, für ihn und diese Gedichte zu kämpfen. Sie verlor ihren Job, sie verlor ihre Freunde, sie verlor ihre Familie. Sie kämpfte für seine Freilassung, für seine Gedichte, für ihre Träume von einem Leben, das sie niemals führen durfte.
Mit der Freiheit, die vor einigen Jahren so plötzlich in unser Land eingebrochen war, durfte auch sie nun ihren Traum verwirklichen und verlegte auf eigene Kosten das Buch in einer sehr kleinen Auflage. Dafür verkaufte sie ihr Hab und Gut, bestimmt auch ihren Truck (der Gedanke kam mir als ich an den Bus dachte, in den sie damals eingestiegen war). Kurz darauf erfuhr sie, dass der Mann, längst frei gelassen, sich woanders niedergelassen, eine andere Frau geheiratet und das Schreiben gänzlich aufgegeben hatte. (Das wiederum erzählte mir der ältere Buchverkäufer mit der Hornbrille, den ich darauf angesprochen hatte. Er erzählte mir, den Namen würde man in seiner Generation kennen, aber der Mann sei gar kein guter Dichter gewesen und der ganze Wirbel um die Verhaftung wäre nicht gerechtfertigt. Er hätte einfach provozieren wollen und wenn er ehrlich sei, dann glaube er, dass seine komische Frau ihm einen Floh ins Ohr gesetzt hätte.)
Ich kaufte mir das Buch und nahm es mit nach Deutschland. Ich nehme das Buch immer mal wieder in die Hand und schaue es mir an. Ich finde die Gedichte nicht unbedingt berauschend, aber ich liebe das Buch. Vor allem wegen des Fotos, das auf der Rückseite abgebildet ist. Das Foto erzählt für mich vom großen Glück, das zwei Menschen teilen können, wenn sie einen gemeinsamen Traum träumen, und es erzählt für mich vom großen Unglück, das zwei Menschen auseinander reißen, das Leben zerstören kann, wenn dieser Traum scheitert.
Ich habe die Frau nicht mehr wieder gesehen. Ich hoffe, dass sie noch lebt und ihren Traum ausgeträumt hat, dass sie aufwachen und neu anfangen konnte, auch wenn ich daran zweifele. Wenn jemand sein ganzes Leben einem Traum widmet, dann kann das Aufwachen nahezu unmöglich werden. Oft habe ich darüber nachgedacht, was wäre, wenn ich sie aufgesucht und ihr erzählt hätte, dass ich einen großen Traum von mir, den Traum vom Geschichtenerzählen, direkt oder indirekt ihr verdanke. Was gewesen wäre, wenn ich damals, statt irgendwelche Sachen zu erfinden, zu ihr gegangen wäre und ihr gesagt hätte, dass ich sie mochte, dass ich ihre Träume mochte, dass ich da war, wenn auch noch ein Kind. Vielleicht hätte ich ihr sogar beim Aufwachen geholfen. Ich weiß, diese Frage bringt nichts. Ich weiß, das ist eine Was-wäre-wenn-Frage, die mir niemals etwas bringen wird und doch stelle ich sie mir oft.
Also saß ich in dem Café an dem verregneten Tag und erinnerte mich an sie. An die Träume der ganzen Nationen, der einzelnen Menschen, an die Träume, die gescheitert waren oder verwirklicht und fragte mich, ob denn Träume einen nun wirklich glücklich machen. Gleichzeitig dachte ich daran, dass ich meine Träume liebte und brauchte und nicht anders konnte, als an sie zu glauben, denn ohne diese Träume würde ich viele Dinge nicht tun, die ich getan hatte oder immer noch tat, und ohne diese Träume würde ich vielleicht auch nicht in diesem Café sitzen, an diesem verregneten Tag. Vielleicht würde ich woanders sitzen, in meiner Heimat, würde nur das Vertraute um mich haben, würde nicht in dieser Stadt allein in einem Café sitzen und mir so viele Fragen stellen. Vielleicht wäre ich eine Stewardess, eine blonde, nette Dame, die immer zuvorkommend ist, immer behilflich und die immer lächelt. Vielleicht... Aber das war ich nicht und Was-wäre-wenn-Fragen bringen mir recht wenig, wie gesagt.
All die Erinnerungen hatten mich traurig gestimmt und doch war der Refrain „Träum weiter“ aus meinem Kopf verschwunden. Ich dachte nur daran, dass ich unbedingt das Buch mal wieder in die Hand nehmen und das Foto ansehen sollte. Und vielleicht sollte ich das nächste Mal, wenn ich in meine Heimat fahre, versuchen die Dame ausfindig zu machen, hoffend, dass sie wohlauf ist. Ihr von alldem berichten, was mir gerade durch den Kopf ging. Auch wenn es ihr vielleicht recht wenig bedeuten würde. Trotzdem sollte ich es versuchen. Denn gescheiterte Träume können einiges zerstören, aber auch eine traumlose Realität kann das. Also trank ich meinen Kaffee aus und wartete, bis der Regen aufhörte, um weiter zu gehen. Um zurück zu kehren, in die Realität und um irgendwann dann doch wieder weiter zu träumen...