Das erste Mal, als ich mit Theater intern in Verbindung kam, war ich sechs und meine Mutter schleppte mich zu einem Kindercasting für „Rotkäppchen“ mit. Es sollte eine große Produktion an einem großen Theater werden. Ich weiß noch, wie ich da, aufgehübscht und zurechtgemacht den großen Saal betrat, in dem sich unzählige Kinder befanden. Alle tobten, schrien rum, der ganze Zuschauerraum war voller Kinder und die Erwachsenen, außer der Jury, mussten draußen bleiben und auf ihre hoffentlich begabten Kinder warten.
Die meisten von den anwesenden Kindern waren Mädchen und alle wollten natürlich Rotkäppchen spielen. Ich bekam bereits beim Warten eine halbe Herzattacke, wollte weinen, raus rennen, meine Mutter suchen und von dort verschwinden. Aber die Türen waren zu, außerdem wollte ich mir die Blöße nicht geben; also blieb ich dort sitzen und wartete, bis mein Name aufgerufen wurde.
Auf der Bühne saß die Jury und noch ein Musiker, der den Kindern mit seinen pseudo - lustigen Klaviermelodien die Hemmungen zu nehmen versuchte. Einige, die etwas älter waren als ich und auch coolere Haarspangen, Schuhe und T-Shirts trugen, zappelten rum, tanzten, sangen teilweise und waren bezaubernd als Rotkäppchen. Denen zusehend, wuchs mein Missmut und sank mein Selbstvertrauen im Rekordtempo. Sie waren alle so gutgelaunt, alle lachten, niemand schien Angst zu haben und alle erfreuten sich über ihre drei Minuten auf der Bühne. Ich saß aber da und zitterte, schwitzte, verkrampfte. Ich weiß bis heute nicht, wieso ich da hin gegangen bin oder wieso meine Mutter mich dort angemeldet hatte. Zum Glück gab es, was mich betraf, weiterhin keinerlei schauspielerische Ambitionen, seitens meiner Familie.
Als ich dran war, ging ich zögerlich auf die Bühne, die Panik und die Tränen unterdrückend und murmelte, dass ich gern den Wolf spielen würde. Das wurde sehr willkommen geheißen, schließlich mangelte es definitiv an Wölfen. Dann begann der Musiker mit seiner pseudo-lustigen Musik und ich begann zu brüllen. Ich stellte mich auf allen Vieren und brüllte aus voller Kraft, doch merkte gleichzeitig, dass keines der selbstbewussten Mädchen im Zuschauerraum auch nur ansatzweise Angst vor mir hatte. Genauso wenig die Jury. Ich muss ziemlich elend ausgesehen haben – verängstigt und verunsichert und dabei versuchend gefährlich und bedrohlich zu wirken. Bevor die Jury „Danke, bitte die Nächste“ sagen konnte, brach ich mein Wolfspektakel ab, rannte so schnell ich konnte von der Bühne runter und aus dem Zuschauerraum. Danach erklärte ich meiner Mutter, dass ich nie mehr einen Theaterraum betreten wolle.
Es wäre natürlich ein blödes küchenpsychologisches Klischee – meine später entfachte Theaterliebe auf dieses „Trauma“ zurück zu schieben. Ich habe den Vorfall recht schnell wieder vergessen und mich erst Jahre später daran erinnert und sogar viel darüber gelacht. Aber anderseits geht ja, meines Erachtens nach, an uns Menschen, kaum etwas spurlos vorbei.
Vor einigen Wochen saß ich im Keller vom DT, bei einer neuen Reihe, die sich studiDT nennt, eine open stage Reihe ist und sich vor allem an Studierende richtet, die von einigen Schauspielern des Ensembles animiert, für einige Minuten oder je nach Wunsch auch länger, auf die Bühne gehen und alles tun dürfen, was sie sonst tun oder eben nie tun. Ob es Singen, Gedichte Aufsagen, alberne Spiele spielen oder witzige Anekdoten erzählen ist. Alles ist erlaubt, Hauptsache es macht Spaß und es rockt.
Als mich die Dramaturginnen fragten, ob ich dort auftreten und irgendwas Albernes machen wolle – habe ich nicht so recht gewusst, was ich da tun sollte. Ich habe mir erst Mal die Reihe anschauen wollen, um einen Eindruck zu gewinnen, was das überhaupt ist.
Durch eine lockere Stimmung, bestärkt durch Glühwein und animiert durch Schauspieler – gingen mehr und mehr junge Leute auf die Bühne und tobten sich aus. Es war lustig und ich merkte, wie mich das Geschehen immer mehr mitriss. Ich begann darüber nachzudenken, was das ist, was uns auf die Bühnen treibt, was uns enthemmt und frei macht, wenn wir es zulassen. Ich musste unweigerlich an Kinder denken, die wir alle einmal waren und es vielleicht bist heute sind. (Hoffentlich!) Denn diese Kinder in uns sind es, die uns, ja auch die Gehemmten, Schüchternen, Zurückhaltenden, Schweigsamen auf die Bühnen treiben und uns unglaubliche Sachen tun lassen, die wir sonst nie zu tun wagen würden. Man muss nur diesen Kindern die Möglichkeiten geben zum Vorschein zu kommen.
So fühlte sich studiDT für mich an: dort können alle Kinder wieder zum Vorschein kommen und auf die Bühne hüpfen und man darf alles, was man sich bereit ist vorzustellen. Denn das macht ja die Faszination der Kindheit aus: alles, was man sich vorstellen kann, ist auch real, solange man selbst dran glaubt.
Und darüber nachdenkend, erinnerte ich mich wieder an mein einziges Casting und meinen gescheiterten Wolf. Dann dachte ich mit Genugtuung, dass all diese coolen Mädchen mit coolen Haarspangen und Turnschuhen heute bestimmt sehr erwachsen, sehr ernst, sehr tüchtig und sehr unlustig sind, während ich weiterhin Sachen (ja, auch Wölfe!) erfinde, selber dran glaubend und somit einige andere Menschen dazu bringe, dass sie mir gleich tun. Und dann dachte ich daran, dass ich vielleicht eines Tages, bei Gelegenheit, mich auf alle Vieren stellen und aus voller Kraft brüllen sollte, den bösen, grauen Wolf markierend...
... Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters. Es ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiter zu spielen ...Max Reinhardt
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